Eine Blume blüht auch nicht das ganze Jahr
Vom schönsten Winter meines Lebens und queerer Politik, Ökoziden und Wein.
Aber dann im Winter wird euch die Einsamkeit einholen, haben sie gesagt.
Jetzt ist der Winter vorbei. In vielen kleinen Häppchen kündigte sich der Jahreszeitenwechsel an, wie Mini-Frühlingsrollen auf einer Stehparty, nur mit dem Unterschied, dass ich dieses Jahr nicht ausgehungert darauf gewartete habe. Ich stand nicht lauernd neben der Küchentür, um das Servicepersonal mit ihren Tabletts als Erste abzufangen - ich wartete geduldig, satt und wohlgenährt von dem, was sich Winter auf Hiddensee nennt.
Wovor uns so viele warnten, stellte sich als der schönste Winter aller Zeiten heraus. Uns wurde Ruhe gegönnt.
Einkehr, Luft und Natur.
Rückzug. Intimität und Konzentration auf das Wesentliche.
Vielleicht war es auch eine Ahnung von dem, wie das mit dem Leben eigentlich mal gedacht war. Die Tage waren kurz, die Nächte dehnten sich aus (mit zwei Babys natürlich nicht jede einzelne aber im Großen und Ganzen), wir aßen um 17.30 Uhr zu Abend und schliefen um 19 Uhr ein. Unser Körper erholte sich, ebenso wie unser Geist. Statt durch die Straßen zu rennen, vorbei an hupenden Autos und hektischen Menschen, radelten wir durch die Winterlandschaft, die nachmittags von rosablauen Himmel zart bedeckt wurde. Ich ließ meinen Gedanken freien lauf und konnte so viel schreiben wie noch nie in meinem Leben.
Nun ist der Frühling da, der erste Mai schenkte uns so viel Sonne, dass sich die Ostsee aufwärmte und darin zu Baden nicht mehr nur einer TikTok-Challenge glich. Mein Mann flog aus auf ein Seminar und meine Trauzeugin und Freundin seit dem Abitur, Alison kam mit ihrem Sohn zu Besuch. Ich backte uns zwei Bläche Pizza und wir zogen an den Strand, um ihn erst nach Sonnenuntergang wieder zu verlassen. Wir begegneten so vielen Menschen wie sonst in einer Woche im Winter nicht.
Unsere Gesellschaft geht von linearem Wachstum aus. Immer mehr, immer größer, immer weiter. In der Schule haben wir uns alle mit Koordinatensystemen und den darin beheimateten Graphen rumgeschlagen, steigend und streng monoton steigend. Letzteres waren eben die Graphen, die niemals absinken, deren Steigung nie ins Negative fällt. Dass wir darauf ein ganzes gesellschaftliches Leben aufbauen, war mir mit 17 Jahren nicht klar.
Ich persönlich, Cis-Frau, also ein als weiblich gelesenes Wesen, in einem von mir auch als weiblich empfundenen Körper, erlebe aber immer wieder, dass mein Leben nicht streng monoton steigend verläuft, sondern im Gegenteil, eigentlich jeden Monat nach einer Pause verlangt. Immer dann, wenn die Periode einsetzte, lernte ich von früh auf, dass das, was ich mir vorgenommen hatte, höchstes mit Doping durch Schmerzmittel zu erreichen gewesen wäre. Die Schmerzen, die ich dabei empfinde, begrüße ich natürlich nicht, und es gab auch den ein oder anderen Vorfall, als ich wirklich das Gefühl hatte, keine Kontrolle über meinen Körper zu haben – aber trotz- dem erscheint es mir als falsch, sich mit allen Mitteln von einem zyklischen Wesen in ein lineares, immer funktionierendes Wesen zu wandeln.
Die Künstlerin und Musikerin Anohni berichtet in dem Handbuch Wann wenn nicht wir* der Widerstandsgruppe Extinction Rebellion, dass ihr erst mit zunehmendem Alter klar geworden sei, dass die Unterdrückung schwuler Männer und die Unterwerfung der Frauen sich nicht nur aufeinander begründen, sondern auch den Weg bereitet haben für die zerstörerische Ausbeutung der Natur.
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